Text: RA Markus Loher
Bild: Google Gemini
Datum: 06.10.2025
Die Invalidenversicherung (IV) verfolgt seit jeher den Grundsatz „Eingliederung vor Rente“. Mit der Revision WEIV wurde dieser Grundsatz nun auch im Gesetz festgehalten. Die praktische Umsetzung ist aber sehr problematisch. Lange Zeit folgten die IV-Stellen einem fragwürdigen Muster: Man sprach Eingliederungsmassnahmen zu, die regelmässig scheiterten oder abgebrochen wurden – häufig aus gesundheitlichen Gründen oder wegen psychischer Dekompensation. Danach wurde die Sache in die Rentenprüfung verschoben – und dort attestierten Gutachter oft eine hohe „medizinisch-theoretische“ Arbeitsfähigkeit. Diese passte zwar nicht zur Realität der gescheiterten Eingliederung, diente den IV-Stellen aber als Begründung, eine Rente zu verweigern.
Mit Urteil 9C_539/2024 vom 12. Juni 2025 (zur Publikation vorgesehen) hat das Bundesgericht seine Rechtsprechung zum Grundsatz Eingliederung vor Rente in mehreren Punkten präzisiert:
Das Gericht hält fest, dass medizinische Gutachten nur dann beweiswertig sind, wenn sie die Ergebnisse der durchgeführten Eingliederungsmassnahmen ausdrücklich einbeziehen. Die Gutachter müssen sich mit den Gründen für einen Abbruch oder das Scheitern der Massnahmen auseinandersetzen und diese in ihre Beurteilung der Arbeitsfähigkeit integrieren. Es muss nachvollziehbar sein, weshalb die Massnahme abgebrochen werden musste oder nicht zum Erfolg führte (E. 4.4.).
Das Bundesgericht betont, dass eine „medizinisch-theoretische“ Arbeitsfähigkeit, die sich auf dem Arbeitsmarkt (noch) nicht verwerten lässt, nicht genügt, um den Rentenanspruch zu verneinen. In solchen Fällen sind die IV-Stellen verpflichtet, weitere Eingliederungsmassnahmen anzubieten oder bestehende Massnahmen anzupassen. Der Vorrang der Eingliederung verlangt einen ernsthaften Integrationsversuch, bevor über den Rentenanspruch entschieden werden kann (E. 4.5.2).
Das Bundesgericht hält fest, dass ein Rentenanspruch auch dann entstehen kann, wenn die versicherte Person aus medizinischen Gründen (noch) nicht eingliederungsfähig ist. Eine attestierte Arbeitsfähigkeit bleibt unbeachtlich, wenn sie bloss medizinisch-theoretischer Natur ist und nicht ohne vorgängige medizinisch-therapeutische Massnahmen umgesetzt werden kann. In dieser Übergangsphase besteht Anspruch auf eine Invalidenrente. Der Anspruch entfällt erst, sobald durch eine entsprechende Behandlung die Eingliederungsfähigkeit so weit hergestellt ist, dass eine berufliche Integration erfolgversprechend erscheint (E. 4.5.2).
Das Bundesgericht hebt hervor, dass Eingliederungsmassnahmen auch präventiv eingesetzt werden müssen, um eine drohende Invalidität zu verhindern (Art. 8 Abs. 1 IVG). Drohende Invalidität liegt bereits dann vor, wenn die spätere Umsetzung einer medizinisch-theoretischen Arbeitsfähigkeit gefährdet ist, sofern keine Massnahmen erfolgen (E. 5.4.3).
Das Urteil stärkt den Grundsatz Eingliederung vor Rente durch eine differenzierte Abgrenzung zwischen medizinischer und tatsächlich verwertbarer Arbeitsfähigkeit. Es verpflichtet Gutachter:innen und IV-Stellen, die Ergebnisse von Eingliederungsmassnahmen ernsthaft in die Sachverhaltsabklärung einzubeziehen. Für die Praxis bedeutet dies:
Das Urteil ist insofern von Bedeutung, als in der Praxis häufig zu beobachten ist, dass der Rentenanspruch von Versicherten infolge langwieriger Verfahren und Abklärungen oftmals erst erheblich später – nicht selten mehr als ein Jahr nach der Anmeldung – entsteht. Häufig wird Versicherten in einer initialen Phase seitens der IV mitgeteilt, sie sollen sich wieder melden, wenn sie eingliederungsfähig sind. Die finanzielle Lücke muss von der versicherten Person getragen werden (vgl. hierzu den Beitrag von Inclusion Handicap vom 30.06.2022 zum Urteil 9C_380/2021). Im Lichte des neuen Urteils sind die IV-Stellen künftig gehalten, bereits im Eingliederungsprozess zu prüfen, ob und in welchem Umfang ein befristeter Rentenanspruch besteht, sofern (noch) keine verwertbare Eingliederungsfähigkeit vorliegt. Dem Eingliederungsprozess, der bislang teilweise stiefmütterlich behandelt wurde, dürfte zudem deutlich mehr Gewicht zukommen, weil eine medizinisch-theoretisch attestierte Arbeitsfähigkeit realen arbeitsmarktlichen Bedingungen standhalten muss. Eingliederung und Rentenanspruch greifen damit enger ineinander und können nicht isoliert geprüft werden.
Text: RA Markus Loher
Bild: Google Gemini
Datum: 06.10.2025
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