Text: Markus Loher
Bild: Adobe Stock
Datum: 01.10.2024
Eine neuere Dissertation offenbart die systematische Befangenheit ärztlicher Dienste der IV, der Suva und der obligatorischen Krankenpflegeversicherungen. Was viele Praktiker:innen und auch Versicherte mit einem unguten Gefühl beobachten, ist nun wissenschaftlich untermauert. Dr. iur. Aleksandra Milosevic gelangt in ihrer Forschungsarbeit (Aleksandra Milosevic, Die (Un)vereinbarkeit der Ausgestaltung medizinischer Dienste mit der Verfahrensfairness, Diss. Basel 2023) zum Schluss, dass die Eingliederung ärztlicher Dienste in die Versicherung dem Anspruch auf Beurteilung durch eine unbefangene Behörde als Teilgehalt des Verfahrensgrundrechts auf gleiche und gerechte Behandlung gemäss Art. 29 Abs. 1 BV nicht genügt.
In ihrer Dissertation geht Dr. Milosevic der Frage nach, ob mit der weitgehenden funktionellen und organisatorischen Eingliederung medizinischer Experten in die Organisation der Versicherung – Invalidenversicherung, Suva und obligatorische Krankenpflegeversicherung – eine systematische Verletzung des Anspruchs der versicherten Personen auf Beurteilung ihrer Angelegenheit durch eine unbefangene Behörde (Art. 29 Abs. 1 BV) vorliegt. Aufgrund der konkreten Eingliederung des RAD, des versicherungsmedizinischen Dienstes der Suva und der vertrauensärztlichen Dienste der Krankenpflegeversicherungen liege eine systematische Befangenheit vor, weshalb die Dienste auszugliedern seien.
Argumentiert wird mit der enormen Bedeutung versicherungsinterner Stellungnahmen. Beurteilungen von internen Versicherungsärzt:innen zu relevanten Beweisthemen – Arbeitsfähigkeit, Kausalität etc. – gäben die Richtung des Verfahrens entscheidend vor. Das Gleiche gilt für die Beurteilung eines bei einer externen Stelle eingeholten Gutachtens durch den versicherungsinternen ärztlichen Dienst. Die Anwaltschaft weiss, wie ungleich die Spiesse bei der Beurteilung solcher Gutachten bemessen sind und welchen Einfluss die Gutachtenskritik durch einen ärztlichen Dienst hat.
Die Autorin weist weiter darauf hin, dass die Gerichte kaum in der Lage seien, objektiv-fachliche Mängel in formal korrekt abgefassten ärztlichen Stellungnahmen auszumachen. Bei medizinischen Sachverhalten besteht zudem oft eine hohe Variantenvielfalt, die medizinische Einordnung kann variieren. Aufgrund dieser Faktoren sei die gerichtliche Überprüfung des Entscheids der Behörde nur bedingt möglich. Damit verkomme die versicherungsinterne Beurteilung oft zur einzigen, zumindest aber zu der massgebenden Entscheidungsgrundlage.
Wegen der grossen Bedeutung versicherungsinterner Stellungnahmen, der bedingten Überprüfungsmöglichkeit durch die Gerichte und des grossen Spielraums, einen ärztlichen Sachverhalt zu beurteilen, gelangt die Autorin zum Schluss, dass den versicherungsinternen Ärzt:innen eine richterähnliche Funktion zukomme. Diese Sachlage mache es notwendig, an die internen Ärzt:innen denselben Massstab anzuwenden wie an externe Gutachter:innen oder Richter:innen. Sie weist auch darauf hin, dass versicherungsinterne und -externe Sachverständige die gleiche Funktion erfüllten und damit an die Grundsätze rechtsstaatlichen Handelns gebunden seien. Eine Unterscheidung bei der Beurteilung der Abhängigkeit rechtfertige sich deshalb nicht. Dies habe zur Folge, dass versicherungsinterne medizinische Sachverständige, genauso wie externe, im Sinn eines selbstverwalteten Betriebes zu organisieren wären.
Die Autorin betont, dass die wirtschaftliche Abhängigkeit allein nicht ausschlaggebend sei für die systematische Befangenheit. Diese ergäbe sich erst als Folge weiterer, hinzutretender Umstände. Untersucht hat die Autorin, wie die konkreten Abhängigkeitsverhältnisse bei den ärztlichen Diensten der IV, Suva und KVG-Versicherern sind.
Bei den Mitgliedern des RAD nennt sie u.a. die wirtschaftliche Abhängigkeit, die fehlende effektive räumliche Trennung der RAD-Ärzt:innen von der IV-Stelle, mögliche personelle Überschneidungen mit Angestellten der IV-Stelle, die Aufsichts- und Weisungsbefugnis des BSV in ihrer konkreten Ausgestaltung und den Spardruck in der Invalidenversicherung. Auch weist sie auf die Begünstigung der Identifikation der Ärzt:innen mit den Betriebsinteressen hin. Diese habe zur Folge, dass ein RAD-Mitglied bei Ermessensfragen im Sinne der Identifikation mit den zu wahrenden Allgemeininteressen einem Einzelanspruch nicht unvoreingenommen gegenüberstehe. Entschärfende Umstände erkennt die Autorin in der fehlenden Verfügungsmacht des RAD und den hohen sachlichen Anforderungen an die Kündigung eines internen Sachverständigen. Mit diesen Umständen sei der Gefahr einer Voreingenommenheit aber nicht genügend entgegengewirkt. Die funktionelle und organisatorische Eingliederung des RAD, in Kombination mit der wirtschaftlichen Abhängigkeit, rechtfertige objektiv begründete Zweifel an der fachlich-inhaltlichen unbefangenen Tätigkeit der RAD-Ärzt:innen.
In Bezug auf die Suva betont die Autorin die einseitige, räumliche und sachliche Einbettung. In Kombination mit der Finanzierungssituation – trotz Ausgestaltung als Non-Profit-Organisation – könne eine starke Identifikation mit der Arbeitgeberin erfolgen und damit ein gewisser Leistungs- und Erfolgsdruck begünstigt werden. Auch wenn faktisch kein Druck ausgeübt werden sollte, würden die genannten Umstände aus objektiver Sicht auf den Anschein der Befangenheit schliessen lassen. Bei den Suva-Ärzt:innen sieht die Autorin deshalb ebenfalls objektiv begründete Zweifel an einer fachlich-inhaltlich unbefangenen Tätigkeit.
Die Dissertation greift ein altes Streitthema auf. Bei ablehnenden Entscheidungen stehen Versicherte Berichten versicherungsinterner ärztlicher Dienste erfahrungsgemäss skeptisch gegenüber. Die Befangenheit versicherungsinterner Ärzt:innen resp. die Glaubhaftigkeit ihrer Aussagen führt zu vielen juristischen Auseinandersetzungen. Das Bundesgericht hat es bisher abgelehnt, auf die Kritik in der Lehre einzugehen mit dem lapidaren Hinweis, dass die wirtschaftliche Abhängigkeit allein nicht genüge, um die Befangenheit zu begründen. Es unterliess es allerdings, die Abhängigkeit in Kombination mit weiteren Umständen zu diskutieren. Dies führt in der Praxis dazu, dass die Befangenheit versicherungsinterner Ärzt:innen kaum bejaht wird. Diese Praxis steht in krassem Gegensatz zum Empfinden in der Bevölkerung und verkennt das offenkundige hohe Misstrauen, welches aus der Eingliederung in die Organisation der Versicherung gegen die Versicherungsärzt:innen entsteht. Dieses Misstrauen führt zu vielen und langwierigen juristischen Auseinandersetzungen. Dass nun auch eine Forschungsarbeit eine systematische Befangenheit offenlegt, lässt aufhorchen. Es ist nun an der Zeit, die medizinischen Dienste komplett auszugliedern und in selbständige verwaltete Organisationen zu überführen. Damit können die faktischen Abhängigkeitsverhältnisse zumindest zu einem gewissen Teil beseitigt werden. Die Autorin schlägt vor, hierfür eine einheitliche Ärztegruppe zu schaffen in neutralen Zentren, unter einer multipartiten Leitung.
Text: Markus Loher
Bild: Adobe Stock
Datum: 01.10.2024
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