Text: RA Nathalie Tuor
Bild: Adobe Stock
Datum: 05.11.2024
Im Rahmen einer parlamentarischen Motion (23.3808) wird der Bundesrat dazu aufgefordert, Massnahmen zur Beschleunigung des IV-Verfahrens zu treffen und die finanzielle Absicherung der Betroffenen sicherzustellen. Im Motionstext wird vorgeschlagen, ein Wartezeittaggeld für die Zeit zwischen dem Abschluss von beruflichen Eingliederungsmassnahmen und dem IV-Rentenentscheid einzuführen. Obwohl der Bundesrat die Motion unter Hinweis auf die Taggeldleistungen der Kranken-, Unfall- und Arbeitslosenversicherung zur Ablehnung empfohlen hat, wurde diese im September im Nationalrat angenommen. Was sind die Hintergründe?
Wer sich bei krankheits- oder unfallbedingter Arbeitsunfähigkeit für den Bezug von Leistungen der Invalidenversicherung anmeldet, muss sich in Geduld üben. Das Abklärungsverfahren der Invalidenversicherung ist langwierig und die finanzielle Absicherung der Betroffenen meist nicht gewährleistet. Obwohl die Invalidenversicherung in der Regel innert sechs Monaten nach Eintritt der Arbeitsunfähigkeit involviert ist, warten versicherte Personen oft mehrere Jahre, bis der Leistungsanspruch geprüft und der Entscheid der Invalidenversicherung gefällt wird.
Dies hängt damit zusammen, dass die Leistungen der Invalidenversicherung auf das Ziel «Eingliederung vor Rente» ausgerichtet sind. Nach der Anmeldung werden deshalb zuerst sämtliche Möglichkeiten einer Eingliederung in den Arbeitsmarkt geprüft. Erst nach Abschluss der Eingliederungsbemühungen kommt es zur Rentenprüfung, womit das Warten beginnt. Betroffene müssen sich in dieser Phase oft mehreren medizinischen Abklärungen unterziehen, bevor ein Entscheid der IV vorliegt. Wird dieser angefochten, verzögert sich das Verfahren erneut. Betroffene warten deshalb oft mehrere Jahre bis zum Vorliegen eines definitiven Rentenentscheids. In dieser Zeit ist die finanzielle Absicherung durch die Invalidenversicherung nicht gewährleistet. Anspruch auf ein IV-Taggeld haben lediglich Personen, welche an einer IV-Massnahme teilnehmen. Betroffene sind deshalb auf die Taggeldleistungen der Krankentaggeld-, Unfall- oder Arbeitslosenversicherung angewiesen. Sind die Leistungen ausgeschöpft und ist kein privates Vermögen vorhanden, bleibt oft nur noch der Gang zum Sozialamt, was für viele Betroffene mit Scham verbunden ist.
Die Praxis zeigt: Aufgrund der langwierigen IV-Verfahren ohne finanzielle Absicherung kommt es bei vielen Betroffenen zu einer enormen psychischen Belastung und dadurch zu einer weiteren Verschlechterung des Gesundheitszustands. Anstatt sich auf die Verbesserung der Gesundheit und die Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt konzentrieren zu können, sind sie von finanziellen Ängsten geplagt. Die Chancen, im Arbeitsmarkt erneut Fuss zu fassen, sinken.
Trotz dieser Ausgangslage hat der Bundesrat die Motion zur Ablehnung empfohlen. In seiner Stellungnahme argumentiert er, es sei nicht Aufgabe der IV, während des Abklärungsverfahrens oder der Prüfung des Rentenanspruchs die finanzielle Absicherung der versicherten Person sicherzustellen. Hier seien andere Versicherungen taggeldpflichtig und verweist auf die Taggeldleistungen der Kranken-, Unfall- und Arbeitslosenversicherungen, welche den Leistungen der IV vorgingen. Es sei nicht zielführend, ein allgemeines Wartezeittaggeld einzuführen, welches grosse Auswirkungen auf die Abgrenzung und Koordination zwischen den Versicherungen habe.
Der Bundesrat verkennt, dass in der Praxis die Taggeldleistungen der Kranken-, Unfall- und Arbeitslosenversicherung oft nur zeitlich begrenzt ausgerichtet werden. Bei krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit sind die Taggeldleistungen spätestens nach zwei Jahren ausgeschöpft. Anspruch auf Arbeitslosentaggelder besteht im Anschluss lediglich dann, wenn die Beitragszeiten erfüllt sind und eine Vermittlungsfähigkeit ausgewiesen werden kann. Dies führt dazu, dass sich Betroffene aufgrund der prekären finanziellen Situation oft gegen die Empfehlung der behandelnden Ärzte arbeitsfähig schreiben lassen, um Arbeitslosentaggeld zu beziehen und so den Gang zum Sozialamt zu vermeiden.
Hier ist die Invalidenversicherung, welche für die Eingliederung der Versicherten zuständig ist und die ökonomischen Folgen von Invalidität bis zu einem bestimmten Grad ausgleichen soll (Art. 1a IVG), in die Pflicht zu nehmen. Diese sieht bisher lediglich im Zusammenhang mit der Durchführung von Eingliederungsmassnahmen ein Taggeld vor. Während des Rentenabklärungsverfahrens sind Betroffene hingegen finanziell oft auf sich gestellt. Dies ist insbesondere in jenen Fällen stossend, bei welchen mit hoher Wahrscheinlichkeit Anspruch auf eine Rente oder zumindest eine Teilrente besteht. Nebst der finanziellen Entlastung der Betroffenen würde ein Wartezeittaggeld bei der Invalidenversicherung zudem den Anreiz schaffen, die Rentenprüfung voranzutreiben, womit auch den Versicherten gedient wäre. Eine Beschleunigung des IV-Verfahrens ist auch mit Blick auf die Ansprüche aus der 2. Säule zu begrüssen. Solange kein definitiver Rentenentscheid der IV vorliegt, fliessen in der Regel auch keine Invalidenleistungen der Pensionskasse.
Die Motion wird zurzeit in den behandelnden Kommissionen des National- und Ständerats beraten. Anschliessend wird der Ständerat darüber befinden.
Text: RA Nathalie Tuor
Bild: Adobe Stock
Datum: 05.11.2024
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