Text: RA Aurelia Jenny
Bild: Google Gemini
Datum: 12.12.2025
Ein Verkehrsunfall zwischen einem Motorfahrzeug und einem schwächeren Verkehrsteilnehmer (Fussgänger oder Velofahrer) wirft in der Praxis komplexe Rechtsfragen auf. Entscheidend für den Umfang der Schadenersatzpflicht ist oft die sogenannte Haftungsquote, welche das Zusammenspiel von Gefährdungshaftung des Motorfahrzeughalters und einem allfälligen Selbstverschulden des geschädigten Fussgängers oder Velofahrers widerspiegelt. Eine spezielle Rolle kommt dabei auch dem Quotenvorrecht zu, das dem Geschädigten auch bei Selbstverschulden eine bessere Kompensation seines Schadens ermöglicht.
Im Zentrum des Strassenverkehrsrechts steht die Kausalhaftung des Motorfahrzeughalters gemäss Art. 58 Abs. 1 SVG. Diese Norm begründet eine Gefährdungshaftung, welche vom Grundsatz der Verschuldenshaftung nach Art. 41 OR abweicht. Der Halter eines Motorfahrzeugs haftet grundsätzlich für den Schaden, der durch den Betrieb seines Fahrzeugs verursacht wird – und zwar unabhängig von einem eigenen Verschulden. Diese verschärfte Haftung ist durch das erhöhte Gefahrenpotenzial eines Motorfahrzeugs im Vergleich zu schwächeren Verkehrsteilnehmern begründet (vgl. BGE 111 II 89). Es soll das der Betriebsgefahr innewohnende Risiko auf den Halter als denjenigen abgewälzt werden, der die Gefahr in den Verkehr gebracht hat. Im Fall einer Kollision zwischen einem Auto und einem Velo oder Fussgänger kann der Halter somit auch dann haftpflichtig werden, wenn ihn kein Verschulden trifft.
Die Haftung des Motorfahrzeughalters ist jedoch nicht unbegrenzt. Nach Art. 59 Abs. 1 SVG wird die Haftung ausgeschlossen oder gemindert, wenn der Schaden durch höhere Gewalt oder durch ein grobes Verschulden des Geschädigten oder eines Dritten verursacht wurde. Die Halterin oder die Lenkerin darf aber kein Verschulden treffen und es darf keine überwiegende Betriebsgefahr vorliegen. Im Falle eines Unfalls, bei dem sowohl die Betriebsgefahr des Autos als auch ein Verschulden der Geschädigten (Selbstverschulden) kausal für den Schaden sind, wird daher festgelegt, wer welchen Anteil am Schaden zu tragen hat. Folgende Faktoren sind für die Festlegung der Haftungsquoten zentral:
Das blosse Inverkehrbringen eines Motorfahrzeugs begründet eine Haftung. Die Betriebsgefahr wird einerseits durch die Geschwindigkeit und andererseits durch das Gewicht (die Masse) des Fahrzeugs bestimmt (BGer 4A_479/2009 vom 23.12.2009). Sie wird nicht abstrakt, sondern aufgrund ihrer Auswirkungen in der konkreten Situation festgelegt (BGer 4A_5/2014 vom 02.06.2014). In der Rechtsprechung wird der Betriebsgefahr typischerweise ein Anteil von 30% bis 60% beigemessen (BGer 4A_479/2009 vom 23.12.2009). Es finden sich aber auch Anteile der Betriebsgefahr – in Abwesenheit eines Verschuldens des Motorfahrzeuglenkers – von 80% (BGE 111 II 89 bei hoher Betriebsgefahr).
Hat der schwächere Verkehrsteilnehmer eine Verkehrsregel verletzt oder sich unvorsichtig verhalten, liegt ein Selbstverschulden vor, das haftungsmindernd wirkt. Es kann von leicht bis grob reichen.
Bei Fehlverhalten im Strassenverkehr ist grobe Fahrlässigkeit in der Regel dann anzunehmen, wenn in ursächlichem Zusammenhang mit dem Unfall eine elementare Verkehrsvorschrift oder mehrere wichtige Verkehrsregeln schwerwiegend verletzt wurden. Der Begriff der groben Fahrlässigkeit ist in diesen Fällen weiter zu fassen als derjenige der groben Verletzung von Verkehrsregeln nach Art. 90 Abs. 2 SVG, welcher ein rücksichtsloses oder sonst schwerwiegend regelwidriges Verhalten voraussetzt (BGE 148 III E. 4.3.3), bspw. beim Überqueren einer stark befahrenen Hauptstrasse ausserhalb einer Ortschaft, ohne sich (ausreichend) zu vergewissern, dass die Strasse frei ist (BGE 111 II 89).
Ein grobes Selbstverschulden kann die Haftung des Motorfahrzeughalters gemäss Art. 59 Abs. 1 SVG sogar ganz ausschliessen. Voraussetzung hierfür ist jedoch, dass dem Motorfahrzeughalter oder -lenker keinerlei Verschulden zur Last gelegt werden kann, vgl. bspw.
Huber/Frei haben sich in einem Beitrag aus dem vergangenen Jahr eingehend mit dem Zusammenspiel zwischen Betriebsgefahr und Verschulden auseinandergesetzt (vgl. HAVE 2024/1, S. 11-19). In Anlehnung an Huber/Frei ergeben sich beispielhaft folgende Quoten:
Eine Velofahrerin verursacht durch die Missachtung des Vortrittsrechts (mittelschweres Verschulden, vgl. Argumentation in BGer 4A_663/2014 vom 09.04.2015 E. 3.2.2, welcher seitens Bundesgerichts jedoch nicht gefolgt wurde) einen Unfall mit einem korrekt fahrenden Motorfahrzeug, dessen Lenker auch bei Aufwendung der gebotenen Sorgfalt den Unfall nicht hätte verhindern können (kein Verschulden, gewöhnliche Betriebsgefahr). Der Schaden der Velofahrerin beträgt CHF 10'000.
Die Velofahrerin muss demnach CHF 4'000 des Schadens selbst bezahlen (Quotenvorrecht vorbehalten). Für den umgekehrten Fall, bei dem die Velofahrerin am Auto Schaden verursacht, sind die Quoten analog anwendbar, wobei die Haftung der Velofahrerin ausschliesslich auf ihrem Verschulden beruht (Art. 41 OR, ohne Betriebsgefahr). Ist dem Fahrzeuglenker jedoch auch ein Verschulden im mittelschweren Bereich anzulasten, so reduziert sich die Quote der Velofahrerin auf 20%. Sie kann also CHF 8'000 vom Schädiger oder dessen Haftpflichtversicherung fordern.
Wie Betriebsgefahr und Verschulden zu gewichten sind, muss im Einzelfall bestimmt werden, wobei die Qualifikation des Verschuldens (und wohl auch der Betriebsgefahr) keine Sachverhalts-, sondern eine Rechtsfrage darstellt (BGer 4A_453/2017 vom 12.07.2018 E. 2.6, nicht publ. in BGE 144 III 319). Entsprechend umfangreich ist die bundesgerichtliche Rechtsprechung, die es hierzu jedenfalls zu konsultieren gilt.
Text: RA Aurelia Jenny
Bild: Google Gemini
Datum: 12.12.2025
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