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Text: Markus Loher
Bild: Stadtarchiv Zürich
Datum: 01.04.2024

Tram gegen Mensch – Wer haftet?

Jüngst häufen sich die Meldungen über Kollisionen zwischen Velofahrern oder Passanten und Trams. Anfangs März 2024 ereigneten sich in der Stadt Zürich am selben Tag gleich zwei Kollisionen mit tödlicher Verletzungsfolge; einmal zwischen einem Tram und einem Velofahrer, einmal zwischen einem Tram und einem Fussgänger. Nach der Verkehrsunfallstatistik der Stadt Zürich haben sich im Jahr 2023 mehr Unfälle mit Personenschaden im öffentlichen Verkehr ergeben als im Durchschnitt der Jahre zuvor (2014–2022). 163 Unfälle mit Personenschaden fielen auf die Beteiligung mindestens eines Personentransportfahrzeugs (ÖV) zurück (Verkehrsunfallstatistik 2023 der Stadt Zürich).

Für die Folgen einer Kollision mit einem Tram kann das Tramunternehmen haftbar gemacht werden. Die Haftpflicht des Tramunternehmens ist im Eisenbahngesetz geregelt. Danach haftet der Inhaber eines Eisenbahnunternehmens für den Schaden, wenn die charakteristischen Risiken, die mit dem Betrieb der Eisenbahn verbunden sind, dazu führen, dass ein Mensch getötet oder verletzt wird oder ein Sachschaden entsteht (Art. 40b EBG). Der Inhaber wird allerdings von der Haftpflicht entlastet, wenn ein Sachverhalt, der ihm nicht zugerechnet werden kann, so sehr zur Entstehung des Schadens beigetragen hat, dass dieser als dessen Hauptursache anzusehen ist (Art. 40c Abs. 1 EBG). Solche Ursachen sind zum Beispiel höhere Gewalt oder grobes Verschulden der geschädigten oder einer dritten Person (Art. 40c Abs. 2 EBG). Bei Verkehrsunfällen mit einem Tram haftet deshalb grundsätzlich das Tramunternehmen. Dies gilt nicht nur bei Kollisionen zwischen einem Tram und anderen Verkehrsteilnehmern – Personenwagen, Velofahrer, Fussgänger – sondern auch dann, wenn ein Fahrgast im Innern des Trams zu Schaden kommt, zum Beispiel wegen brüsken Bremsens.

In solchen Angelegenheiten ist das Selbstverschulden des Geschädigten eine häufige Streitfrage. Denn die Strassenbahn ist gegenüber dem Fussgänger und anderen Verkehrsteilnehmern grundsätzlich vortrittsberechtigt (Art. 38 Abs. 1 SVG). Dies gilt selbst auf Fussgängerstreifen (Art. 47 Abs. 2 VRV). Wenn also der Tramführer keine Signalisation oder Verkehrsregel verletzt und kein technischer Fehler vorliegt, ist dem Fussgänger bei einer Kollision grundsätzlich ein Selbstverschulden anzulasten (BGE 148 III 343, E. 3.4).

Ein grobes Selbstverschulden liegt vor, wenn eine geschädigte Person elementare Sorgfaltsregeln ausser Acht lässt, die eine vernünftige Person in der gleichen Lage beachtet hätte. Die geschädigte Person darf nicht nur unaufmerksam sein; vielmehr muss sie äusserst unvorsichtig handeln (BGE 148 III 343, E. 3.4). Als grobes Selbstverschulden wertet das Bundesgericht zum Beispiel, wenn ein Fussgänger, auf das Handy schauend, unverhofft die Tramgleise überquert und dabei nicht auf den Tramverkehr achtet (BGE 148 III 343).

Weil das Bundesgericht sich bisher nicht oft mit Kollisionen zwischen Fussgängern und Trams beschäftigen musste, bezog es sich im erwähnten Urteil auch auf Urteile aus den Jahren 1927 und 1931. Im älteren Fall betrat ein Fussgänger das Tramgleis, ohne vorher Umschau zu halten; im jüngeren betrat eine Frau das Tramgleis, als sie in ein Gespräch mit einer Freundin vertieft war. Man darf sich zurecht die Frage stellen, ob diese Vergleiche zulässig sind. Damals war das Verkehrsaufkommen im öffentlichen Verkehr nicht so gross wie heute. Der Verkehr ist nicht nur dichter, sondern, mit neuen Verkehrsmitteln und neuen öffentlichen Verkehrslinien, auch viel komplexer geworden. Ausserdem dürfte der Lebensalltag der Verkehrsteilnehmer hektischer geworden sein. Mit der Digitalisierung hat sich zudem das Verhalten der Verkehrsteilnehmer grundlegend verändert. Diesen Begebenheiten hatte die kantonale Vorinstanz – dessen Urteil das Bundesgericht aufhob – zumindest teilweise Rechnung getragen. Das kantonale Gericht hatte betont, dass das Handy die Ablenkung unserer Zeit schlechthin sei und der über das Handy gebeugte Fussgänger zum städtischen Strassenbild gehöre (BGE 148 III 343, E. 4.2.2). Die kantonale Vorinstanz hatte das Verhalten des Fussgängers deshalb nicht als grobes Selbstverschulden gewertet.

Es kann sich jeder selbst die Frage stellen, ob er seine Aufmerksamkeit jederzeit gänzlich dem Strassenverkehr widmet. Gerade weil der Verkehr dichter geworden und die Ablenkungen im öffentlichen Verkehr – auch wegen eines veränderten Lebensstils und neuen Gewohnheiten – zugenommen haben, ist die Betriebsgefahr der öffentlichen Verkehrsmittel deutlich grösser geworden. In anderen Worten: Die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Betriebsgefahr auswirken kann, hat zugenommen. Dies ist vor allem dort der Fall, wo Tramgleise nicht vom übrigen Verkehr getrennt werden, zum Beispiel mit Abschrankungen – wie es teilweise im Ausland anzutreffen ist. Auf diese Veränderung hat die Stadt Zürich reagiert und bei Fussgängerstreifen, die auf Schulwegen liegen oder Querungen über mehr als zwei Fahrstreifen haben, «Achtung Tram»-Markierungen angebracht.

Ein verändertes Verkehrsaufkommen und ein neuer Lebensstil gehen einher mit neuen Risikoverhältnissen. Diesen ist nicht Rechnung getragen, wenn das höhere Risiko allein den Passanten aufgebürdet wird. Ablenkung durch das Handy sollte deshalb nur in absoluten Ausnahmefällen grobes Selbstverschulden begründen.

Text: Markus Loher
Bild: Stadtarchiv Zürich
Datum: 01.04.2024

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