Text: Markus Loher
Bild: Adobe Stock
Datum: 01.01.2024
Mit der Weiterentwicklung der Invalidenversicherung (WEIV) sollten u.a. die Grundsätze des Begutachtungsverfahrens, insbesondere die von der Rechtsprechung ausgearbeiteten Gehörs- und Partizipationsrechte der Versicherten, in das Gesetz aufgenommen werden. Dies brachte eine Revision von zwei zentralen Bestimmungen des Sozialversicherungsverfahrens mit sich: Art. 43 und Art. 44 ATSG.
Die Ausgestaltung insbesondre von Art. 44 ATSG ist nun allerdings unglücklich ausgefallen. Zwar ist zu begrüssen, dass eine Kommission zur Qualitätssicherung ins Leben gerufen wurde und von den Begutachtungen – endlich – Tonaufnahmen erstellt werden. Beide Massnahmen haben bereits Wirkung gezeigt: Jüngst hat das BSV die Zusammenarbeit mit einer bekannten MEDAS wegen Qualitätsmängeln beendet (Medienmitteilung des Bundesrates vom 4.10.2023: «Keine weiteren Aufträge der IV für die Gutachterstelle PMEDA»). Das Vorhaben, die Grundsätze des Begutachtungsverfahrens ins Gesetz zu überführen, ist jedoch gescheitert. Zentrale Fragen werden nicht beantwortet; es bleibt ein gesetzlicher Flickenteppich. Seit Inkrafttreten der Revision vor zwei Jahren sind deshalb zu Einzelfragen der Gehörs- und Partizipationsrechte unterschiedliche kantonale Urteile gefällt worden.
Ein brisantes Beispiel betrifft die Möglichkeit, gegen die Anordnung einer Begutachtung wegen unnötiger Zweitbegutachtung (second opinion) beschwerdeweise vorgehen zu können. Bisher konnten solche Zwischenverfügungen vor dem kantonalen Versicherungsgericht angefochten werden. Die Versicherungsgerichte der Kantone Solothurn und Aargau vertreten in zwei neueren Urteilen die Ansicht, dass mit der WEIV die Verfahrens- und Partizipationsrechte bewusst eingeschränkt werden sollten. Die Anordnung einer Begutachtung soll nur noch wegen Ausstandsgründen gemäss Art. 36 ATSG, nicht jedoch wegen Verletzung des Verbots einer second opinion angefochten werden können. Beide Gerichte traten deshalb auf Beschwerden gegen eine Zwischenverfügung nicht ein (AG: Urteil vom 6.9.2023, VBE.2023.31; SO: Urteil vom 3.10.2022, VSBES.2022.144). In ihrer Argumentation beziehen sich die Gerichte auf die Auslegung des Gesetzes und dabei auf die parlamentarische Diskussion.
Mit der Revision des IVG sollte das Amtsermittlungsverfahren gestärkt werden (BBl 2017 2535, 2625 ff.). Dafür sollten die Gehörs- und Partizipationsrechte der Versicherten im Verfahren der Begutachtung – welche bisher kraft Rechtsprechung Geltung hatten – im Gesetz verankert und so eine gesetzliche Grundlage geschaffen werden. Ausdrücklich ist in der Botschaft erwähnt, dass die Partizipationsrechte, welche mit BGE 137 V 210 eingeführt wurden, eine gesetzliche Grundlage erhalten sollen (BBl 2017 2535, 2626). Gleichzeitig sollte gewährleistet bleiben, dass das Amtsermittlungsverfahren nach wie vor eine einfache und rasche Abwicklung von Sozialversicherungsverfahren ermöglicht.
Die gesetzliche Verankerung der Gehörs- und Partizipationsrechte ist allerdings unglücklich ausgefallen. Im neuen Gesetzestext werden die mit BGE 137 V 210 eingeführten Rechte nur teilweise erwähnt (BSK-ATSG, Massimo Aliotta, Art. 44 N 55; Thomas Flückiger, Rechtsschutz im Sozialversicherungsrecht – Entwicklungen und Grenzen, in: Kieser [Hrsg.], Sozialversicherungsrechtstagung 2021, Zürich/St. Gallen 2022, S. 55 ff., S. 69). Die Versicherungsgerichte der Kantone Aargau und Solothurn fassen dies als bewussten gesetzgeberischen Willen auf, die Partizipationsrechte zugunsten einer Straffung des Amtsermittlungsverfahrens einzuschränken.
Diese Schlussfolgerung greift allerdings zu kurz. Allein aus dem Umstand, dass die Partizipationsrechte gemäss BGE 137 V 210 nur teilweise ins Gesetz aufgenommen wurden, kann nicht auf einen bewussten gesetzgeberischen Willen geschlossen werden. Es ist in Erinnerung zu rufen, dass die Neuregelung von Art. 43 und 44 ATSG untergeordnete Gesetzesänderungen im Rahmen der IVG-Revision waren. Es war nicht das Ziel der WEIV, die Gehörs- und Partizipationsrechte zu beschneiden, um das Verfahren zu straffen. Dies zeigt sich auch darin, dass diese Rechte in der parlamentarischen Diskussion nur marginales Thema bildeten. Zu Art. 43bis ATSG findet sich keine parlamentarische Diskussion (Thomas Flückiger, Rechtsschutz im Sozialversicherungsrecht – Entwicklungen und Grenzen, in: Kieser [Hrsg.], Sozialversicherungsrechtstagung 2021, Zürich/St. Gallen 2022, S. 55 ff., S. 69). Auch in der Diskussion zu Art. 44 ATSG fanden die Gehörs- und Partizipationsrechte nur am Rande Erwähnung. Ein Minderheitenantrag verlangte den Erlass einer Zwischenverfügung nicht nur bei der Anordnung einer Begutachtung, sondern auch bei der Wahl des Sachverständigen und betreffend die an den Sachverständigen zu richtenden Fragen (AB 2019 N 115: Votum Schenker Silvia, Minderheitenantrag). Der Antrag wurde abgelehnt. Begründet wurde dies u.a. damit, dass die bisherige Regelung genügend sei, sich im Weiteren auch bewährt habe und es keinen zwingenden Grund gebe, hier weiterführende Administration und Auflagen zu formulieren (AB 2019 N 109, Votum Hess Lorenz). Offenbar wurde der Minderheitenantrag – fälschlicherweise – als Erweiterung der bisherigen Rechte aufgefasst, was man unter Hinweis auf die geltende Rechtsprechung für unnötig befand. Die Ablehnung des Minderheitenantrags kann deshalb nicht als bewusste Einschränkung der Gehörs- und Partizipationsrechte aufgefasst werden.
So argumentierte auch das Kantonsgericht Basel-Stadt. Es ergänzte, dass die Botschaft in Kenntnis von BGE 137 V 210 formuliert wurde. Es wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass in der Botschaft zu Art. 43bis ATSG die Gehörs- und Partizipationsrechte erwähnt sind, worunter auch die Beschwerdemöglichkeit gegen eine Zwischenverfügung wegen unnötiger second opinion fällt (Urteil vom 29.11.2022, IV.2022.41, E. 3.2.3).
Eine Straffung des Verfahrens auf Kosten der mit BGE 137 V 210 eingeführten Partizipationsrechte ist deshalb vom Willen des Gesetzgebers nicht getragen. Vielmehr entsteht der Eindruck einer wenig durchdachten Regelung (Kaspar Gehring, Gutachten und Qualitätssicherung, HAVE 3/2021, 326 ff., 328.).
Des Weiteren ist in der Botschaft nur erwähnt, dass das Verfahren – wie bisher – einfach und rasch abgewickelt werden soll. Von einer Straffung und Verkürzung des Verfahrens ist in der Botschaft gerade nicht die Rede.
Gegen die Beschneidung der Gehörs- und Partizipationsrechte sprechen weitere Argumente. So war mit Art. 57 Abs. 3 IVG bereits unter altem Recht eine dem Art. 43bis ATSG ähnliche Regelung in Kraft. Dies hielt das Bundesgericht allerdings nicht davon ab, die Partizipationsrechte mit BGE 137 V 210 zu stärken (Thomas Flückiger, Rechtsschutz im Sozialversicherungsrecht – Entwicklungen und Grenzen, in: Kieser[Hrsg.], Sozialversicherungsrechtstagung 2021, Zürich/St. Gallen 2022, S. 55 ff., S. 68 f.).
In der Lehre wird ausserdem darauf hingewiesen, dass selbst bei der Wahl der Fachdisziplinen – hier sieht das Gesetz die abschliessende Kompetenz der Verwaltung vor – nach wie vor ein Beschwerderecht bestehen soll. Die abschliessende Kompetenz bedeutet nur, dass die Versicherung kein Einigungsverfahren über die Wahl der Fachdisziplinen durchführen muss (Kaspar Gehring, Gutachten und Qualitätssicherung, HAVE 3/2021, 326 ff., 327.).
Eine Beschneidung der Gehörs- und Partizipationsrechte würde des Weiteren auch nicht zu einer Straffung des Verfahrens führen – ein Hauptargument der beiden kantonalen Gerichte. In der Lehre wird die Ursache für die lange Verfahrensdauer bei den Versicherungen und nicht bei den Versicherten verortet (Kaspar Gehring, Gutachten und Qualitätssicherung, HAVE 3/2021, 326 ff., 327.). Auch von der Sache her würde die Abschaffung des Beschwerderechts nicht zu einer schnelleren Verfahrenserledigung führen. Die Überprüfung der Notwendigkeit einer Begutachtung würde lediglich in den Hauptprozess verlagert. Würde ein Gericht feststellen, dass das eingeholte Gutachten das Verbot der second opinion verletze – mithin nicht notwendig sei –, müsste die Begutachtung wiederholt werden. Bisher liegen keine empirischen Untersuchungen vor, die nahelegen, dass diese Verfahrensverzögerung weniger lang dauert als das Gerichtsverfahren bei der Anfechtung einer Zwischenverfügung. In diesem Sinn bringt eine Beschneidung der Partizipationsrechte keinen zeitlichen Gewinn.
Nach dem Gesagten müssen den Versicherten die mit BGE 137 V 210 eingeführten Partizipationsrechte auch unter Geltung des neuen Rechts zustehen. Der Gesetzestext steht dieser Auslegung nicht entgegen.
Text: Markus Loher
Bild: Adobe Stock
Datum: 01.01.2024
Bleiben Sie immer up-to-date.
Abonnieren Sie unseren Newsletter.