Text: Nathalie Tuor
Bild: Adobe Stock
Datum: 05.06.2024
Krankheiten mit langsam voranschreitenden, fluktuierenden Krankheitsverläufen, wie sie typischerweise bei Schubkrankheiten wie Multipler Sklerose oder Schizophrenie, aber auch bei Morbus Hodgkin, somatoformen Schmerzstörungen und allgemein bei chronischen psychischen Störungen auftreten, sind nicht nur medizinisch schwer fassbar, sie erfordern auch aus versicherungsrechtlicher Optik eine besondere Handhabung. Ohne frühzeitige Planung droht der Verlust von Leistungen der Sozialversicherung. Welche Gefahren man beachten und wie man bei beginnendem Krankheitsausbruch vorgehen sollte, beantworten wir in diesem Beitrag. Zudem finden Sie in unseren Downloads eine Checkliste, mit welcher Sie Ihre Situation selbst einschätzen können.
Schubkrankheiten zeichnen sich durch ihren schleichenden und schubweisen Verlauf aus (vgl. z.B. BGer-Urteil 9C_142/2016 vom 09.11.2016 E. 7.1). Im Anfangsstadium ist die Erkrankung mit den beruflichen Anforderungen mehr oder weniger noch vereinbar, weshalb Betroffene oft noch keine beruflichen oder medizinischen Massnahmen ergreifen. Auch wenn die Schübe stärker werden und die Erkrankung bereits deutliche Auswirkungen auf die berufliche Tätigkeit hat, versuchen Betroffene häufig, die Krankheit in Schach zu halten und für sich zu behalten. Dabei gehen sie an und oft auch über ihre Grenzen. Sind diese erreicht, wird zunächst das Arbeitspensum reduziert oder gar selbst gekündigt, um eine Stelle mit weniger hohen Anforderungen zu suchen. Dabei nehmen Betroffene auch finanzielle Einbussen und eine Verschlechterung der Versicherungssituation in Kauf. Häufig werden die tatsächlichen Gründe für die Reduktion des Arbeitspensums oder für den Stellenwechsel gegenüber dem Arbeitgeber oder dem Arzt nicht offen kommuniziert. Es erfolgt deshalb auch keine Krankschreibung oder Kontaktnahme mit der IV.
All dies geschieht erst dann, wenn die Batterien komplett leer sind und nichts mehr geht. Erst jetzt wird die Krankheit gegenüber dem Arbeitgeber kommuniziert, die Anmeldung bei der Krankentaggeldversicherung vorgenommen und später die IV ins Boot geholt. Die Betroffenen befinden sich zu diesem Zeitpunkt bereits in einer Arbeitsstelle mit einem tieferen Arbeitspensum oder einem tieferen Einkommen. Zudem fehlt es an einer umfassenden echtzeitlichen Dokumentation der schleichend voranschreitenden Erkrankung mit der damit einhergehenden Verminderung der Arbeitsfähigkeit. Aus versicherungsrechtlicher Sicht kann dies schwerwiegende finanzielle Konsequenzen haben. Einige davon sollen hier beleuchtet werden.
In der Invalidenversicherung hängt die Höhe der Leistungen vom Invaliditätsgrad ab. Bei voll Erwerbstätigen wird der Invaliditätsgrad anhand eines Vergleichs des Validen- mit dem Invalideneinkommen ermittelt (Einkommensvergleich): Es wird das Einkommen, welches man im Gesundheitsfall verdienen würde, dem Einkommen, welches man mit den gesundheitlichen Beeinträchtigungen zumutbarerweise noch verdienen kann, gegenübergestellt. Die Differenz, ausgedrückt in Prozenten des Valideneinkommens ist der Invaliditätsgrad. Je höher die Differenz ausfällt, desto höher fallen der Invaliditätsgrad und somit auch die IV-Rente aus.
Bei Teilerwerbstätigen, die neben ihrer beruflichen Tätigkeit auch Aufgaben im Haushalt übernehmen, werden zudem die Einschränkungen in diesem Bereich, dem sog. Aufgabenbereich, berücksichtigt. Für den Aufgabenbereich und den Erwerbsbereich werden je ein Invaliditätsgrad bestimmt (Gemischte Methode), anteilsmässig gewichtet und dann addiert. Die Erfahrung zeigt, dass der Invaliditätsgrad im Aufgabenbereich eher restriktiver bemessen wird. Eine teilerwerbstätige Person erfährt deshalb einen tieferen Invaliditätsgrad, als wenn sie vollzeitig arbeiten würde. Aus diesem Grund spielt das Arbeitspensum vor Eintritt der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit für die Bemessung des Invaliditätsgrades eine wichtige Rolle.
Entscheidend ist auch die Höhe des Valideneinkommens. Für dessen Bemessung wird in der Regel an das Einkommen beim bisherigen Arbeitgeber angeknüpft. Lässt sich das Einkommen nicht ausreichend bestimmen, werden statistische Löhne, sog. Tabellenlöhne, herangezogen. Die Bestimmung des Tabellenlohnes erfolgt wiederum auf der Basis der zuletzt ausgeübten Tätigkeit. Bei der Bemessung des Invaliditätsgrades kommt der beruflichen Situation, insbesondere die Lohnhöhe, im Zeitpunkt der erstmaligen Arbeitsunfähigkeit deshalb eine hohe Bedeutung zu.
Problematisch wird es, wenn Versicherte sich aus gesundheitlichen Gründen selbständig umorientieren, das Arbeitspensum reduzieren und ihre Stelle kündigen, um eine ihrer Erkrankung besser zugeschnittene Arbeit anzunehmen. Meist nimmt man damit auch eine Lohneinbusse in Kauf. Kommt es später zu einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit und zur Anmeldung bei der Invalidenversicherung, besteht die Gefahr, als teilerwerbstätige Person oder in ein zu tiefes Valideneinkommen eingestuft zu werden. Mangels Dokumentation des Gesundheitsverlaufs wird der Nachweis schwierig, dass die berufliche Umorientierung aus gesundheitlichen Gründen erfolgte. Die Invalidenversicherung wird annehmen, dass man aus krankheitsfremden Gründen in einem Teilzeitpensum gearbeitet oder sich aus freien Stücken mit einem tieferen Lohn zufriedengegeben habe. Durch das tiefere Arbeitspensum oder das tiefere Valideneinkommen resultiert ein tieferer Invaliditätsgrad und damit auch tiefere Leistungen von der IV. Da ein Anspruch auf eine Umschulung erst ab einem Invaliditätsgrad von ca. 20%, eine Rente erst ab einem Invaliditätsgrad von 40% gegeben sind, besteht sogar das Risko, keine Leistungen von der Invalidenversicherung zu erhalten.
Wer im Sinne der IV invalid ist, hat nebst dem Anspruch auf eine Invalidenrente aus der 1. Säule auch Anspruch auf eine Invalidenrente aus der 2. Säule, der beruflichen Vorsorge. Da Schubkrankheiten über Jahre schleichend in Erscheinung treten und Betroffene meist ein oder mehrere Stellenwechsel vornehmen, bis die Versicherungen involviert werden, fragt sich, welche Pensionskasse die Rente bezahlen muss. Dies entscheidet sich danach, wann eine Verminderung des Leistungsvermögens im bisherigen Beruf oder Tätigkeitsbereich von mindestens 20% eingetreten ist. Die Einbusse an Leistungsvermögen muss arbeitsrechtlich in Erscheinung treten und muss von den Betroffenen nachgewiesen werden können. Denn die Beweislast obliegt der versicherten Person. Für den Nachweis dienen echtzeitliche ärztliche Atteste oder Unterlagen aus dem Arbeitsverhältnis, wie Protokolle der Mitarbeitergespräche, ausgesprochene und dokumentierte Verwarnungen oder gesundheitsbedingte Pensumsreduktionen und Kündigungen. Bestehen Anzeichen dafür, dass sich eine Krankheit auf die Arbeitsfähigkeit auswirkt, ist es deshalb wichtig, sich in ärztliche Behandlung zu begeben, die Arbeitsunfähigkeit ärztlich bestätigen zu lassen und diese gegenüber dem Arbeitgeber zu kommunizieren. Massgebend ist, dass die gesundheitsbedingte Reduktion des Arbeitspensums oder eine vom Arbeitgeber festgestellte und dokumentiere Leistungsabnahme dokumentiert sind. Ansonsten fehlen wichtige Beweismittel für den Nachweis einer während bestehender Versicherungsdeckung eingetretenen Arbeitsunfähigkeit. Versicherte, die sich aus gesundheitlichen Gründen selbständig umorientieren und einen Stellenwechsel in eine leidensangepasste Tätigkeit vornehmen, ohne entsprechende Vorkehren zu treffen, riskieren deshalb auch den Anspruch auf eine IV-Rente aus der beruflichen Vorsorge.
Ähnlich ist die Situation bei einer gesundheitsbedingten Reduktion des Arbeitspensums ohne Bestätigung des Arbeitgebers oder des behandelnden Arztes, dass diese aus gesundheitlichen Gründen erfolgt. Allein der Fakt, dass das Arbeitspensum reduziert wurde, reicht für den Nachweis einer relevanten Arbeitsunfähigkeit während des Arbeitsverhältnisses in der Regel nicht aus. Zusätzlich ist ein echtzeitliches ärztliches Attest oder eine Bestätigung des Arbeitgebers erforderlich, die eine Reduktion des Arbeitspensums aus gesundheitlichen Gründen bestätigen. Ohne echtzeitliche Dokumente kann der Nachweis einer Pensumsreduktion aus gesundheitlichen Gründen praktisch nicht erbracht werden. Nachträgliche Annahmen oder eine rückwirkend festgelegte medizinisch-theoretische Arbeitsunfähigkeit erschweren den Nachweis erheblich. Auch hier hat der Versicherte die Folgen der Beweislosigkeit zu tragen.
Besteht bei Eintritt der Arbeitsunfähigkeit, welche später zu einer Invalidität führt, keine Versicherungsdeckung, kann für dieses Leiden kein Anspruch auf eine IV-Rente aus der beruflichen Vorsorge entstehen. Das Gleiche gilt, wenn der Eintritt der Arbeitsunfähigkeit während der Versicherungsdeckung nicht nachgewiesen werden kann. Anders verhält sich nur dann, wenn nach einem Stellenwechsel während mehr als drei Monaten wieder eine Arbeitsfähigkeit von über 80% in einer dem Leiden angepassten Tätigkeit bestand und dabei von einer dauerhaften Wiedererlangung der Arbeitsfähigkeit ausgegangen werden konnte. In diesem Fall ist die neue Pensionskasse für die Ausrichtung von Invalidenleistungen zuständig. Zu beachten ist aber, dass beim Eintritt in ein neues Vorsorgeverhältnis – gleich wie bei einem (gesundheitsbedingten) Stellenwechsel – mit Leistungseinschränkungen zu rechnen ist. Sofern beim Eintritt ein Gesundheitsfragebogen ausgefüllt werden musste, wird die Pensionskasse auf die vorbestehenden Leiden einen Gesundheitsvorbehalt anbringen. Verwirklicht sich das vorbehaltene Risiko während der Vorbehaltsdauer kommen nur die gesetzlichen Mindestleistungen zur Ausrichtung. Zudem ist beim Eintritt in eine neue Pensionskasse zu beachten, dass sich der Umfang der Versicherungsdeckung nach dem Beschäftigungsgrad und dem versicherten Lohn bei Eintritt der Arbeitsunfähigkeit bemisst. Wurde bei der neuen Stelle aus gesundheitlichen Gründen ein tieferer Beschäftigungsgrad oder eine wenig anspruchsvollere Anstellung mit entsprechender Lohneinbusse gewählt, fallen die Versicherungsleistung im Falle einer Invalidität entsprechend tiefer aus. Bevor aus gesundheitlichen Gründen ein Stellenwechsel vorgenommen wird, empfiehlt es sich, mit dem behandelnden Arzt zu sprechen, um herauszufinden, ob diese aus einer gesundheitlichen Überforderung erfolgt. Gegebenenfalls ist eine Krankschreibung zu prüfen.
Schliesslich ist zu beachten, dass Lohneinbussen im Rahmen eines Stellenwechsels oder einer Pensumsreduktion schneller zu einer Überentschädigungskonstellation führen können. Die Pensionskassen können die Invalidenleistungen kürzen, sofern sie zusammen mit anderen (Sozial-)Versicherungsleistungen 90% des mutmasslich entgangenen Verdienstes übersteigen. Dieser orientiert sich am Valideneinkommen und damit in der Regel am Einkommen beim letzten Arbeitgeber. Je tiefer dieses ausfällt, umso tiefer ist die Überentschädigungsgrenze und damit die Leistungen aus der beruflichen Vorsorge.
Text: Nathalie Tuor
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Datum: 05.06.2024
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