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Text: Aurelia Jenny
Bild: Adobe Stock
Datum: 26.07.2024

Rechtsfindung auf kantonaler Ebene

Dass Rechtsfindung und Rechtsfortbildung nicht nur dem Bundesgericht vorbehalten sind, sondern auch auf kantonaler Ebene betrieben werden können, hat das Kantonsgericht Basel-Landschaft in seinem Urteil vom 11.05.2023 bewiesen: Die Unfallversicherung ist auch nach Fallabschluss für Heilbehandlungen leistungspflichtig, selbst wenn beim Fallabschluss keine Rente zugesprochen wurde. Das Urteil ist rechtskräftig.

Im betreffenden Fall wurde die versicherte Person im Dezember 2014 Opfer eines Unfalls, als sie am Strassenrand stehend von einem Lieferwagen angefahren wurde. Sie erlitt ein stumpfes Abdominaltrauma mit gedeckter Blasenruptur, eine Riss-Quetschwunde supraorbital sowie eine gering dislozierte Nasenbeinfraktur. Per Ende Juni 2021 wurde der versicherten Person eine Integritätsentschädigung zugesprochen und der Anspruch auf einen Rentenanspruch verneint (ab Mai 2018 war die versicherte Person wieder voll erwerbsfähig). Gleichzeitig wurde die Übernahme der Heilbehandlungskosten eingestellt. Als Folge des Unfalls bestand bei der versicherten Person eine Blasenentleerungsstörung mit einer latenten Infektionsgefahr. Daher war sie weiterhin auf regelmässige urologische Verlaufskontrollen sowie die Einnahme eines Medikaments angewiesen. Unbestritten war, dass diese Behandlung medizinisch indiziert und unfallkausal war.

Das Gesetz sieht hierzu Folgendes vor: Gemäss Art. 19 Abs. 1 UVG entsteht der Rentenanspruch, wenn von der Fortsetzung der ärztlichen Behandlung keine namhafte Besserung des Gesundheitszustandes mehr erwartet werden kann […]. Mit dem Rentenbeginn fallen die Heilbehandlung und die Taggeldleistungen dahin. Art. 21 UVG sieht Ausnahmefälle vor, in denen auch nach der Festsetzung der Rente weiterhin Pflegeleistungen und Kostenvergütungen übernommen werden, z.B. beim Vorliegen einer Berufskrankheit.

Der Rechtsvertreter argumentierte, dass sich diese beiden vorgenannten Bestimmungen auf die Übernahme der Heilbehandlungskosten nach Zusprache einer Rente bezögen. Ganz allgemein werde der Anspruch auf Heilbehandlung aber durch Art. 10 UVG bestimmt, der keine zeitliche Befristung der Kostenübernahme vorsähe. Die bundesgerichtliche Rechtsprechung, dass sich Art. 19 UVG auch auf Nichtrentenbezüger beziehe, entspreche nicht dem gesetzlichen Wortlaut.

Das kantonale Gericht folgte dieser Argumentation und stellte sich damit explizit gegen die Rechtsprechung des Bundesgerichts (vgl. bspw. BGE 133 V 57 oder 144 V 354). An einem Beispiel erklärt das Gericht, was an der bisherigen Praxis nicht überzeugt: Zwei versicherte Personen haben sich bei Unfällen schwere Hüftgelenksverletzungen zugezogen. Bei Erreichen des sog. medizinischen Endzustands verbleiben bei beiden Personen Dauerschmerzen, die längerfristige Therapie erfordern, und sie sind auf Schuheinlagen angewiesen. Bei einer wegen erhöhten Pausenbedarfs bestehenden Leistungsfähigkeit von 90% ergibt sich aufgrund des Einkommensvergleichs im einen Fall ein Invaliditätsgrad von 10% und damit ein Rentenanspruch, während der Invaliditätsgrad im zweiten Fall 8% beträgt. Für die erste Person erbringt die Unfallversicherung nebst der Rente weiterhin die notwendigen Therapien und übernimmt die Schuheinlagen. Für die andere Person enden aber mit dem Fallabschluss alle Leistungen. So können zwei versicherte Personen mit dem exakt gleichen Leiden bei der Gewährung von Heilbehandlungen nach Festsetzung der Rente bzw. nach Fallabschluss unterschiedlich behandelt werden. Das Gleichheitsgebot ist dadurch verletzt (E. 4.2).

In seinen weiteren Erwägungen beleuchtet das kantonale Gericht anschaulich die bisherige bundesgerichtliche Rechtsprechung und erläutert, dass das Bundesgericht fälschlicherweise den Anwendungsbereich von Art. 19 und die Einstellung der Heilbehandlungskosten auch auf Nichtrentenbezüger ausdehnte. Bei den Rentenbezügern wurde die Problematik erkannt und daher Art. 21 UVG geschaffen, der weitere Kostenübernahmen auch nach Zusprache der Rente vorsieht (E. 6.1 und 6.2.1). Weiter setzte sich das kantonale Gericht mit der Entstehungsgeschichte auseinander und zeigte schlüssig auf, weshalb bei Gesetzeserlass kein bewusster Entscheid getroffen worden war, Ansprüche auf Heilbehandlung und Hilfsmittel bei Erreichen des Endzustands stets enden zu lassen (E. 6.3).

Das Kantonsgericht schliesst, dass die in BGE 133 V 57 etablierte Feststellung, von Gesetzes wegen werde die Heilbehandlung nur so lange gewährt, als von der Fortsetzung der ärztlichen Behandlung noch eine namhafte Besserung des Gesundheitszustandes erwartet werden könnte, unzutreffend ist. Das UVG sieht keine derartige Befristung vor. Eine solche Befristung lässt sich auch nicht aus der Systematik des Gesetzes ableiten. Im Gegenteil werde die Heilbehandlung im UVG unter dem dritten Titel "Versicherungsleistungen" im ersten Kapitel "Pflegeleistungen und Kostenvergütungen" geregelt, während die Geldleistungen, zu denen Taggelder und Renten gehören, im zweiten Kapitel abgehandelt werden. Weshalb eine versicherte Person einen Anspruch aus dem ersten Kapitel auch dann verlieren soll, wenn keine Rente zugesprochen wird oder auch nur zur Diskussion steht, sei nicht nachvollziehbar. Der Anspruch einer nicht rentenberechtigen Person auf Heilbehandlung und Hilfsmittel lässt sich damit auch über den Fallabschluss hinaus ohne Weiteres auf Art. 10 UVG stützen.

Dieses Urteil ist sehr zu begrüssen und setzt einer in der Lehre lange währenden Diskussion ein positives Ende. Die Kostenübernahme für Heilbehandlungen und Hilfsmittel kann demnach auch bei versicherten Personen ohne Rentenanspruch nicht mehr ohne weiteres gekappt werden.

Text: Aurelia Jenny
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Datum: 26.07.2024

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