Text: Aurelia Jenny
Bild: Michael Sonderegger
Datum: 02.05.2024
Im Sozial- wie auch im Privatversicherungsrecht gilt der Grundsatz der Schadenminderungspflicht (Art. 21 Abs. 4 ATSG und Art. 38a VVG). Die anspruchsberechtigte Person ist verpflichtet, nach Eintritt des befürchteten Ereignisses tunlichst für die Minderung des Schadens – im Falle einer Taggeldversicherung bei Krankheit demnach das Ausmass der Arbeitsunfähigkeit – zu sorgen. Bei psychisch bedingter Arbeitsunfähigkeit auferlegen Versicherungen daher oftmals die Verpflichtung, eine Psychotherapie aufzunehmen und dabei auch medikamentöse Behandlungen vorzunehmen. Dies stellt einen Eingriff in die persönlichen Freiheiten einer versicherten Person dar. Es stellt sich die Frage nach der Zulässigkeit solcher Anforderungen. Dies soll nachfolgend beleuchtet werden.
Im Bereich des Privatversicherungsrechts werden die Versicherungen auf freiwilliger Basis finanziert. Die öffentlich-rechtliche Rechtsprechung kann hier demnach nur bedingt zur Anwendung gelangen. Ein Beispiel dafür findet sich in Urteil 4A_111/2010 vom 12.07.2010. Hier wurde die Rechtsprechung zum ATSG insofern als anwendbar erklärt, als dass die Ausgestaltung der Schadenminderung nach Art. 21 Abs. 4 ATSG eine Konkretisierung der Regeln von Treu und Glauben (Art. 2 Abs. 1 ZGB) darstelle. In dem Urteil befasste sich das Gericht mit dem Berufswechsel nach längerdauernder Krankheit. Da aber die Einnahme von Psychopharmaka nicht mit einem Berufswechsel gleichzusetzen ist, soll nachfolgend aufgezeigt werden, ob und inwiefern die strenge Rechtsprechung zur Medikamenteneinnahme im Sozialversicherungsrecht auch im Privatversicherungsrecht anzuwenden ist.
Allgemein gilt, dass die erwartete Schadenminderung in einem vernünftigen Verhältnis zum damit verbundenen Rettungsaufwand und der Erfolgswahrscheinlichkeit der Massnahme stehen muss. Kann mit der geforderten Massnahme nur eine geringe Schadenminderung erzielt werden oder ist die Erfolgschance klein, so ist die Massnahme jedenfalls dann unzumutbar, wenn sie mit hohen Kosten verbunden ist oder anderweitig schützenswerte Rechtsgüter der versicherten Person gefährdet sind (BSK-VVG Süsskind RN 27 zu Art. 38a).
So erkannte das Bundesgericht selbst in einem Fall, in welchem die Versicherung einen Berufswechsel verlangte und nach Ablauf einer Übergangsfrist die Taggeldzahlungen einstellte, dass dies mangels Realisierbarkeit des Berufswechsels unzulässig sei (Urteil 9C_177/2022 vom 18.8.2022). Der Versicherte arbeitete in der Baubranche, in welcher ein Altersrücktritt mit 60 Jahren unter bestimmten Voraussetzungen gewährleistet ist. Im Zeitpunkt, in welchem der Versicherte schadenmindernd eine andere Stelle hätte suchen sollen, war er 59-jährig und es verblieb ihm noch eine berufliche Aktivität von weniger als 1.5 Jahren bis zur Pensionierung. Beurteilt wurde die Umstellungsmöglichkeit anhand tatsächlicher arbeitsmarktlicher Verhältnisse. Ein Berufs- oder Stellenwechsel war im konkreten Fall nicht realisierbar und das Taggeld somit weiterhin geschuldet (E. 6.4). Umso mehr muss der Verhältnismässigkeit Rechnung getragen werden bei der Einnahme von Medikamenten als direkter Eingriff in die körperliche und allenfalls psychische Integrität eines Menschen.
Bei Personenschäden sind die individuellen Bedürfnisse und die Befindlichkeit des Versicherten in verstärktem Mass zu berücksichtigen, da das Interesse an der Unversehrtheit stark zu gewichten ist, subjektive Faktoren sind zu berücksichtigen (BSK-VVG Süsskind, RN 28 f. zu Art. 38a). Da die Versicherungsunternehmen im Gegensatz zu Sozialversicherungsträgern nicht hoheitlich auftreten, kann die versicherte Person über ihre Behandlung und die anzuwendende Therapiemethode selbst entscheiden (a.a.O. RN 41 zu Art. 38a). So urteilte auch das Kantonsgericht Basel-Landschaft, dass die versicherte Person nach Rücksprache mit ihrem behandelnden Arzt von einer seitens Vertrauensarzt der Versicherung empfohlenen Medikamenteneinnahme absehen durfte, wenn aufgrund der Erfahrungen aus einer früheren Behandlung anzunehmen war, die versicherte Person finde auch ohne Psychopharmaka bei wöchentlich stattfindender Psychotherapie einen Weg aus ihrem depressiven Gesundheitszustand (Entscheid des Kantonsgerichts Basel-Landschaft 731 17 96 vom 28.9.2017, E. 5.4.2.2). Auch wird postuliert, dass bei einem echten Gewissenskonflikt (Ablehnung einer Bluttransfusion unter Berufung auf die Glaubens- und Gewissensfreiheit) die Verletzung der Schadenminderungspflicht nicht schuldhaft i.S.v. Art. 38a Abs. 2 VVG erfolge.
Demnach ist im Hinblick auf die Schadenminderung nicht anhand pauschalisierter Annahmen danach zu fragen, ob eine medikamentöse Behandlung vorgenommen wird oder nicht, sondern ob sich die versicherte Person in einer ihrem Leiden angemessenen medizinischen Behandlung befindet und ob sie die fachärztlichen Anordnungen befolgt. Bei verschiedenen Therapieoptionen ist es der versicherten Person überlassen, für welche sie sich entscheidet. Auch ist im Hinblick auf die Verhältnismässigkeit und in Nachachtung einer Einzelfallprüfung jedenfalls zu unterscheiden zwischen akuten und schweren Krankheitszuständen und mittelschweren, sich in Remission befindlichen Erkrankungen. Wenn nur (noch) eine teilweise Arbeitsunfähigkeit vorliegt und damit der Schaden nicht (mehr) so gross ist, müssen die persönlichen Faktoren der versicherten Person umso mehr ins Gewicht fallen. Wenn eine Besserung mutmasslich auch ohne Medikamente über einen Zeitraum von einem halben Jahr oder Jahr eintritt und mit medikamentöser Behandlung diese Dauer – hypothetisch – nur um einige Monate verkürzt werden kann, so steht der mutmasslich verminderte Schaden in keinem Verhältnis zum Aufwand der versicherten Person, Medikamente über Monate hinweg ein- und wieder auszuschleichen, die Kosten für die Medikamente zu tragen und sich einer Therapieform hinzugeben, die ihr persönlich widerstrebt.
Geht man vom Bestehen einer Schadenminderungspflicht in Form einer medikamentösen Psychotherapie aus, so stellt sich weiterführend die Frage, was im Falle einer Pflichtverletzung geschehen soll. In der Praxis wird seitens Versicherung meist angekündigt, dass mit der (hypothetischen) Medikamenteneinnahme von einer gesundheitlichen Verbesserung ausgegangen wird und demzufolge die Leistungen eingestellt werden. Das Gesetz sieht hingegen vor, dass die von der Versicherung geschuldete Entschädigung um jenen Betrag gekürzt werden darf, um den sich die Versicherungsleistung bei Beachtung der Schadenminderungspflicht vermindert hätte (Art. 38a Abs. 2 VVG). Die Beweislast hierfür liegt bei der Versicherung. Diese hat also einen hypothetischen Krankheitsverlauf aufzuzeigen, mithin darzulegen, inwiefern sich das Zustandsbild schneller verbessert hätte, wenn eine medikamentöse Therapie aufgenommen worden wäre. Dies dürfte bei psychischen Leiden kaum möglich sein.
Dieser Artikel erschien erstmals in iusNet HVR, 25.1.2024. Den ungekürzten Artikel können Sie dort nachlesen (Bezahlschranke).
Text: Aurelia Jenny
Bild: Michael Sonderegger
Datum: 02.05.2024
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